„Vision vs. Realität“ – selten war ein Leitthema so passend für die Gegenwart der Immobilienwirtschaft. Zwischen Visionen des nachhaltigen, digitalen und flexiblen Bauens und den harten Grenzen ökonomischer, ökologischer und gesellschaftlicher Realitäten breitet sich ein Spannungsfeld, das die Branche mehr denn je fordert. Von André Eberhard
Die Herausforderungen sind vielfältig: Energiekrise, Zinswende, Klimadruck, Fachkräftemangel und eine gesellschaftliche Neubewertung von Arbeit und Mobilität. Zugleich entstehen neue Utopien – von der autofreien Innenstadt über das klimaneutrale Quartier bis zum Büro, das Flexibilität und Produktivität vereinen soll. Doch wie weit tragen diese Zukunftsträume? Und wo zwingt uns die Realität zu einem nüchternen Kurswechsel?
Kaum ein Bereich illustriert den Spagat zwischen Wunsch und Wirklichkeit besser als die Arbeitswelt. Der pandemiebedingte Digitalisierungsschub hat die Idee des nonterritorialen Büros befeuert: flexible Arbeitsplatzmodelle, Activity-Based Working, Desk-Sharing und hybride Nutzungskonzepte. Laut einer Studie des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) nutzen bereits rund 45 Prozent der Unternehmen in Deutschland hybride Arbeitsformen.
Doch die Euphorie weicht zunehmend der Ernüchterung. Viele Arbeitgeber registrieren einen Produktivitätsrückgang um bis zu 15 Prozent, wenn Teams dauerhaft verteilt arbeiten. Gleichzeitig wächst bei Beschäftigten der Wunsch nach sozialer Nähe: 62 Prozent der Angestellten wünschen sich laut Bitkom eine Rückkehr an den physischen Arbeitsplatz an mindestens drei Tagen pro Woche.
Die Realität: Die Zukunft des Büros liegt in der Balance. Das Büro wird nicht obsolet, sondern neu definiert – als Ort der Begegnung, Identifikation und Kultur. Immobilien müssen dies räumlich ermöglichen: mit offenen Kommunikationszonen, modularen Grundrissen und möglichst nachhaltigen Materialien.
Die Rückkehr der europäischen Stadt – oder doch das Revival des Autos?
Während die Arbeitswelt neue Formen sucht, ringen Städte mit der Frage nach der Mobilität von morgen. Die autofreie Innenstadt ist längst kein Randthema mehr, sondern politisches Ziel in vielen Kommunen. Paris, Wien oder Kopenhagen machen es vor: Der öffentliche Raum wird neu verteilt – zugunsten von Fußgängern, Radfahrern und Aufenthaltsqualität.
Doch der Weg dorthin ist steinig. In Deutschland zeigen sich Widerstände: Laut einer Umfrage des ADAC lehnen 57 Prozent der Stadtbewohner eine vollständige Autofreiheit ab. Gleichzeitig fehlen vielerorts infrastrukturelle Alternativen. Der Ausbau des ÖPNV stagniert, und viele Mittelstädte sind vom ländlichen Umland abhängig, wo das Auto unverzichtbar bleibt.
Die Zukunft der europäischen Stadt wird also nicht autofrei, sondern autoärmer sein – geprägt von Multimodalität und Nutzungsdurchmischung. Immobilienentwickler müssen darauf reagieren: durch reduzierte Stellplatzquoten, Umnutzung von Parkhäusern zu Logistik-Hubs oder Mikrowohnungen und die Integration von Mobilitätshubs in neue Quartiere.
Klimaschutz im Bau: Zwischen Idealismus und Investitionsstau
„Klimaschutz vs. Kosten“ – ein Gegensatz, der derzeit viele Bauherren und Investoren umtreibt. Gebäude sind für rund 30 Prozent der CO₂-Emissionen in Deutschland verantwortlich. Die Ziele sind klar: Der Gebäudesektor soll bis 2045 klimaneutral sein. Doch die Realität hinkt hinterher. Laut den Zahlen des Umweltbundesamtes verfehlte der Sektor 2024 sein Klimaziel um 4,5 Millionen Tonnen CO₂.
Der Grund: Der Neubau stockt. Hohe Baukosten (plus 38 Prozent seit 2020 laut Destatis), steigende Zinsen und Materialknappheit bremsen Investitionen. Der Traum vom nachhaltigen Bauen scheitert oft am Business Case. Selbst ambitionierte Entwickler müssen umdenken: Energetische Sanierung und Bestandsentwicklung gewinnen gegenüber Neubauten an Gewicht.
Innovative Ansätze wie Kreislaufwirtschaft, modulare Bauweise und serielle Sanierung bieten Chancen, Klimaschutz und Wirtschaftlichkeit zu verbinden. Das Fraunhofer Institut schätzt, dass durch Wiederverwendung und Recycling von Baustoffen bis zu 50 Prozent der grauen Emissionen eingespart werden können. Doch dafür braucht es Standards, politische Anreize und eine Neubewertung dessen, was „nachhaltig“ wirklich bedeutet.
Sicherheit als Standortfaktor: Die Rückkehr des Realismus
Ein bislang unterschätztes Thema gewinnt an Brisanz: Sicherheit und Resilienz. Die geopolitischen Verwerfungen und der Krieg in der Ukraine haben das Bewusstsein für strategische Infrastruktur und Bevölkerungsschutz geschärft.
Die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BImA) verwaltet derzeit über 36.000 Liegenschaften, darunter zahlreiche ehemalige Kasernen, Bunker und Verwaltungsgebäude. Viele dieser Objekte könnten künftig eine Doppelfunktion erfüllen – als Katastrophenschutzzentren, Logistikbasen oder Notunterkünfte.
Für die Immobilienwirtschaft bedeutet das: Sicherheitsinfrastruktur wird zur neuen Assetklasse. Projekte, die Energieautarkie, Versorgungssicherheit und Schutzfunktionen berücksichtigen, gewinnen an Attraktivität – nicht nur für den Staat, sondern auch für Investoren. Die Rückkehr des Realismus verdrängt die Illusion grenzenloser Globalisierung: Resilienz ist die neue Nachhaltigkeit.
