Porträt Dr. Peter Burnickl
Dr. Peter Burnickl (Quelle: Pro Bauherr)

Projekte 2024-04-12T05:39:53.514Z Von den Regeln der Technik abweichen

Wie weit und trotzdem rechtssicher lassen sich Normen auslegen? Mit dieser Frage befassen sich Dr. Peter Burnickl und Dr. Florian Schrems.

Steigende Kosten, politische Unsicherheiten – und ein Hoffnungsschimmer: Während sich Projektentwickler lange Zeit lediglich bemühen mussten, ausreichend neue Projekte zu akquirieren, um die Pipeline zu füllen, sehen sie sich mittlerweile zunehmend auch wirtschaftlichen und organisatorischen Schwierigkeiten ausgesetzt. Um dennoch finanziell erfolgreiche Bauvorhaben realisieren zu können, hinterfragen immer mehr von ihnen die Anforderungen der anerkannten Regeln der Technik (aRdT) – vorwiegend mit der Intention, zusätzliche Einsparungen zu erzielen.

Gemeint ist der Standard, den Bauherren bei ihren fertiggestellten Gebäuden in der Regel erwarten dürfen. Bewusste Abweichungen hiervon sind in Deutschland mittlerweile für viele eine denkbare Option, wie man auch am Gebäudetyp-e erkennen kann – speziell angesichts aktueller Probleme, die letztendlich nur weitere Anreize hierfür schaffen. Gefahrenpotenzial ist dabei hingegen allgegenwärtig: Inwieweit sind entsprechende Maßnahmen also rechtskonform umsetzbar und was müssen Bauherren unbedingt darüber wissen?

Porträt Dr. Florian Schrems
Dr. Florian Schrems (Quelle: Schrems Partner)

Das sagen die gesetzlichen Vorschriften

Um insbesondere zivilrechtliche Konsequenzen und damit mögliche Ansprüche der Bauherren zu vermeiden, sollten Abweichungen von geltenden Normen, Vorschriften und anerkannten Regeln der Technik stets rechtswirksam umgesetzt werden. Im Sinne des im Bürgerlichen Gesetzbuch geregelten Schuldrechts haben Unternehmer dem Besteller das geschuldete Werk frei von Sach- und Rechtsmängeln zu verschaffen. Besondere Relevanz für Bauunternehmer und Planer nimmt dabei Paragraf 633 Abs. 2 BGB ein, der wie folgt lautet:

„Das Werk ist frei von Sachmängeln, wenn es die vereinbarte Beschaffenheit hat. Soweit die Beschaffenheit nicht vereinbart ist, ist das Werk frei von Sachmängeln,

1. wenn es sich für die nach dem Vertrag vorausgesetzte, sonst

2. für die gewöhnliche Verwendung eignet und eine Beschaffenheit aufweist, die bei Werken der gleichen Art üblich ist und die der Besteller nach der Art des Werkes erwarten kann.

Einem Sachmangel steht es gleich, wenn der Unternehmer ein anderes als das bestellte Werk oder das Werk in zu geringer Menge herstellt."

Die Einhaltung auch der anerkannten Regeln der Technik findet dort allerdings keinerlei Erwähnung, wird aber immer mit „hineingelesen". Insoweit ist Paragraf 633 Abs. 2 S. 1 BGB im Grunde wie Paragraf 13 Abs. 1 S. 2 und S. 3 VOB/B zu interpretieren:

„Die Leistung ist zur Zeit der Abnahme frei von Sachmängeln, wenn sie die vereinbarte Beschaffenheit hat und den anerkannten Regeln der Technik entspricht. Ist die Beschaffenheit nicht vereinbart, so ist die Leistung zur Zeit der Abnahme frei von Sachmängeln."

Damit sind sowohl der Rahmen als auch die Rangfolge festgelegt: Gibt es eine ausdrückliche Vereinbarung, geht diese grundsätzlich vor. Dabei kann sie über die anerkannten Regeln hinausgehen, aber auch dahinter zurückbleiben. Abseits davon wird im Grundsatz allerdings immer verlangt, dass die anerkannten Regeln der Technik eingehalten werden.

Darauf müssen Bauunternehmer und Planer zwingend achten

Werden nach unten abweichende Standards vereinbart, muss der Bauherr zwingend über die Nichteinhaltung der anerkannten Regeln der Technik sowie über die dadurch entstehenden Folgen und Risiken aufgeklärt werden – und ausdrücklich zustimmen.

Demnach ist bei einer von den anerkannten Regeln der Technik abweichenden Vereinbarung im Prinzip wie bei einer Bedenkenanmeldung zu verfahren:

● Hinweis, dass abgewichen wird

● Hinweis auf die dadurch entstehenden Folgen und Risiken (und eventuelle Vorteile)

● ausdrückliches Einverständnis des Bauherrn

Darüber hinaus ist eine Abweichung von den anerkannten Regeln der Technik lediglich im Rahmen einer Individualvereinbarung wirksam. Erfolgt sie nur in Vertragsmustern, also Allgemeinen Geschäftsbedingungen (das heißt auch in Notarverträgen!), ist sie hingegen regelmäßig unwirksam – jedenfalls gegenüber Verbrauchern. Keinesfalls wirksam vereinbar sind unterdessen Regelungen, die öffentlich-rechtlichen Anforderungen (zum Beispiel der Bauordnung) widersprechen!

Vorsicht: Was man unter dem Begriff der anerkannten Regel der Technik tatsächlich versteht, ist nicht immer eindeutig festgelegt. So finden sich hierzu die unterschiedlichsten Definitionen (vgl. Steffen, NJW-Spezial 2023, 492, beck-online). Eine verlässliche Begriffsbestimmung lautet jedoch: „Anerkannte Regeln der Technik liegen vor, wenn sie wissenschaftlich richtig sind."

Das bedeutet: Sie müssen nachgewiesen, objektiv theoretisch richtig sein, sich in der Praxis bewährt haben und in Kreisen der betroffenen Techniker durchweg bekannt sowie als richtig anerkannt sein (vgl. Steffen, NJW-Spezial 2023, 492, beck-online).

Im Übrigen gilt, dass nicht jede Norm (DIN und ähnliche Regelwerke) den allgemein anerkannten Regeln der Technik entspricht. Sie kann hinter ihnen zurückbleiben, also beispielsweise technisch „veraltet„, aber auch „zu modern“ sein und sich damit in der Praxis noch nicht bewährt haben.

Merke hierzu: Es ist stets zwischen Normen, Richtlinien und den anerkannten Regeln der Technik zu unterscheiden. So können sie unter Umständen klar voneinander abweichen und unterschiedlichen Gewichtungen unterliegen. Während Normen in der Praxis immer häufiger auch quantitative Anforderungen haben, können sie also weiterhin einen niedrigeren Standard als die anerkannten Regeln der Technik aufweisen.

Wie in Paragraf 633 Abs. 2 BGB beschrieben, muss das Werk darüber hinaus zum Zeitpunkt der Abnahme mangelfrei sein – und somit die in diesem Augenblick geltenden allgemein anerkannten Regeln der Technik einhalten. Das kann bei Bauwerken, die über mehrere Jahre geplant und umgesetzt werden, faktisch ein Problem werden. Daher ist aus Unternehmersicht anzuraten, wirksam (das heißt individualvertraglich inklusive Aufklärung) zu vereinbaren, dass das Werk abweichend vom Gesetz nur die anerkannten Regeln der Technik zum Zeitpunkt der Genehmigungserteilung einhalten muss.

Abschließend ist auch bei möglicherweise überzogenen Werbeaussagen in der Baubeschreibung größte Vorsicht geboten: Wird beispielsweise durch eine Charakterisierung wie „anspruchsvoll gestaltete Stadtvilla mit drei exklusiven Eigentumswohnungen" der glaubhafte Eindruck der Hochwertigkeit vermittelt, ist ein Schallschutz geschuldet, der ein erhöhtes, die Anforderungen der DIN 4109 übersteigendes Maß erfordert. (ständige Rechtsprechung, zum Beispiel zuletzt OLG Frankfurt, Urteil vom 18.10.2023 - 15 U 228/21).

Fazit: Abweichung kann durchaus sinnvoll sein

Letztendlich sollte kein Normengremium darüber entscheiden dürfen, in welchem quantitativen Umfang Ausstattungen im geplanten Bauvorhaben eingesetzt werden müssen. Vielmehr müssen sich derartige Angelegenheiten ausschließlich über das Prinzip von Angebot und Nachfrage klären lassen, um wirtschaftliches Bauen allgemein zu ermöglichen. Der Behebung des weiterhin akuten Wohnungsnotstands wäre es schließlich keineswegs zuträglich, wenn die Kosten durch strikte Einhaltung aller Normen in unermessliche Höhen getrieben würden – und sich niemand die entsprechenden Mietkosten leisten könnte.

Unter dem Strich dürfen Projektentwickler selbstverständlich weder geltende Regelungen noch gesetzliche Anforderungen missachten – das betrifft auch die Baurechtsschaffung: Mit Erteilung der Baugenehmigung gelten die zugrunde liegenden Unterlagen, deren Vorgaben damit zwingend einzuhalten sind. Zudem ist immer individuell zu prüfen, was ein vernünftiger Standard ist. Dafür bedarf es der Beurteilung durch einen technisch versierten Berater oder Rechtsbeistand: Stuft er es als wirtschaftlich sinnvoll ein, von anerkannten Regeln der Technik abzuweichen, ist dies eindeutig und ausdrücklich mit Hinweis auf die Folgen und Nachteile zu vereinbaren.

Abschließend lässt sich festhalten, dass man in Deutschland durchaus von Normen und auch von anerkannten Regeln der Technik abweichen kann. Eine saubere, eindeutige, transparente Vereinbarung vorausgesetzt, können alle Beteiligten auf diese Weise eine Menge Geld sparen.

Dr. Peter Burnickl ist Geschäftsführer der Pro Bauherr GmbH und TGA-Ingenieur, Projektentwickler, Bauträger und Projektsteuerer. https://www.pro-bauherr.com

Dr. Florian Schrems ist Fachanwalt für Bau- und Architektenrecht sowie Fachanwalt für Vergaberecht und Lehrbeauftragter an der OTH Regensburg (Bauingenieure) für Vergaberecht. https://www.schrems-partner.de

zuletzt editiert am 09. April 2024