Warum Deutschland bei zirkulärem Bauen der Schweiz hinterherhinkt – und welche Reformen für eine echte Baustoffkreislaufwirtschaft nötig wären – erläutert Sievert-CEO René Grupp in seinem Kommentar.
In Deutschland fallen jedes Jahr Hunderte Millionen Tonnen Bau- und Abbruchabfälle an. Meist werden diese Abfälle nur als minderwertiger Zuschlagstoff genutzt. Dadurch wird ein enormes Potenzial verschenkt, das dabei helfen kann, natürliche Ressourcen zu schonen. Ein Blick in die Schweiz zeigt, wie eine funktionierende Kreislaufwirtschaft im Bauwesen aussehen kann.

Traditionell folgt das Bauen einem linearen Modell. Zuerst werden Rohstoffe abgebaut. Anschließend werden sie verarbeitet, verbaut und genutzt – und am Ende entsorgt. Dieses Vorgehen stößt bald an seine Grenzen. Ein Beispiel dafür ist der endliche Rohstoff Kies, der in der Betonherstellung ein elementar wichtiger Bestandteil ist.
Angesichts steigender Bautätigkeiten, regional begrenzter Abbaumöglichkeiten und ökologischer Bedenken wird Kies in vielen Regionen immer knapper. Zudem führen strukturelle Engpässe – etwa kaum erteilte Abbaugenehmigungen und Deponiezulassungen – zu einem enormen Druck auf die vorhandenen Kapazitäten.
Normative Starre und bürokratische Hürden
Ein weiteres Hindernis sind die veralteten Normen in der Bauindustrie. Die DIN EN 12620 und vor allem die DIN 1045-2 basieren auf herkömmlichen Materialien. Sie lassen kaum Platz für innovative Sekundärrohstoffe. Zwar erlaubt die DIN 1045-2 theoretisch den Einsatz recycelter Gesteinskörnungen, doch sie richtet sich primär an konventionelle Baustoffe. In den Landesbauordnungen findet sie kaum Beachtung. Die Folge: Alternative, ressourcenschonende Produkte wie moderne Putze mit hohem Recyclinganteil werden faktisch ausgeschlossen.
Unternehmen, die nachhaltige Lösungen entwickeln, bewegen sich oft in einer rechtlichen Grauzone. Sie müssen langwierige und komplexe Genehmigungsprozesse in Kauf nehmen. Das erschwert den breiten Einsatz innovativer Materialien. Viele Akteure setzen auf Pilotprojekte, deren Ergebnisse kaum in den industriellen Alltag überführt werden können.
Zudem ist unklar, wann die bestehenden Normen angepasst werden. Die neue europäische Bauproduktverordnung sieht in den nächsten 15 Jahren eine umfassende Revision vor. Diese Unsicherheiten führen dazu, dass Bauherren an der Sicherheit und Zuverlässigkeit nachhaltiger Baustoffe zweifeln.
Die Schweizer Vorreiterrolle
In der Schweiz wird recycelten Baustoffen ein fortschrittlicher Umgang entgegengebracht. Anders als in Deutschland, wo veraltete Normen und langwierige Genehmigungsverfahren den Einsatz innovativer Sekundärrohstoffe behindern, hat sich dort ein System etabliert, das recycelte Materialien fest im Baualltag verankert – mit Recyclingquoten von 70 bis 80 Prozent. Besonders im Rückbau wird Beton nahezu vollständig wiederverwertet. Dadurch schließt sich der Materialkreislauf nahezu lückenlos.
Ein entscheidender Erfolgsfaktor ist die enge Zusammenarbeit zwischen Politik, Normung und Praxis. Schweizer Bauvorschriften fördern aktiv die Kreislaufwirtschaft. Recycelte Baustoffe werden als reguläre Alternative anerkannt. Viele regionale Bauordnungen, wie in der Metropolregion Zürich, integrieren diese Materialien bereits. Klare Rahmenbedingungen ermöglichen den breiten Einsatz innovativer Recyclingtechnologien und steigern die Akzeptanz nachhaltiger Materialien in der gesamten Branche.
Am 1. Januar 2025 traten zudem neue Regelungen in der Schweiz in Kraft. Diese sollen die Materialkreisläufe schließen und die Kreislaufwirtschaft in Produkten und Gebäuden weiter stärken. Zukünftig könnten dadurch noch höhere Recyclingquoten und ein vermehrter Einsatz von Sekundärrohstoffen erreicht werden.
Politik und Normen: Schlüssel zur Baustoffbauwende
Die Schweizer Erfahrungen sind ein überzeugendes Modell, das zeigt, wie Recyclingmaterialien ressourceneffizient eingesetzt werden können. Dieser Ansatz könnte auch den deutschen Markt revolutionieren – wenn die richtigen normativen und politischen Rahmenbedingungen geschaffen werden.
In Deutschland bedarf es eines engen Schulterschlusses zwischen Politik, Normungsinstituten und Unternehmen. Klare Zirkularitätsleitlinien im Bauordnungsrecht sind notwendig. Ebenso wichtig ist die Integration von Sekundärrohstoffen in die Baunormen. Ein digitaler Produktpass, der die Lebenszyklusbilanz von Baustoffen transparent macht, könnte dabei helfen. Starre Regularien und de facto Verbote behindern derzeit den Marktzugang innovativer Materialien und schüren die Skepsis vieler Bauherren bezüglich ihrer Sicherheit und Qualität.
Die erfolgreichen Schweizer Erfahrungen zeigen, dass die konsequente Einbindung ökologischer Kriterien sowohl ökologisch als auch ökonomisch Vorteile bringt. Deutschland sollte diesen Impuls nutzen. Der Ausbau der Kreislaufwirtschaft muss zu einem zentralen Baustein der Dekarbonisierung des Gebäudesektors werden.
Versorgung statt Entsorgung
Der Wandel von einer linearen zu einer zirkulären Wertschöpfungskette bietet große Chancen. Mit diesem Übergang können knappe Ressourcen geschont und langfristig Kosten reduziert werden. Gleichzeitig werden neue Marktpotenziale erschlossen. Es liegt an allen Beteiligten, diesen Transformationsprozess aktiv zu unterstützen. So kann aus der aktuellen Pilotphase eine echte Revolution im Bauwesen entstehen – für eine nachhaltige Zukunft, in der aus Entsorgung tatsächlich Versorgung wird.
Ein Beitrag von René Grupp, CEO Sievert SE.