Die nordrhein-westfälische Stadt Elsdorf steht vor einer bedeutenden Veränderung in der Stadtentwicklung: Bis zum Jahr 2070 soll hier der zweitgrößte See Deutschlands entstehen. Von Thorsten Schnug
„Wohnen am Wasser“ – wer will das nicht? Beim morgendlichen Kaffee den Sonnenaufgang über dem glitzernden See genießen. Die Mittagspause am Strand verbringen. Und beim Blick aus dem Homeoffice-Fenster Segelbötchen zählen. Rund 20 Kilometer vor den Toren Kölns, im Städtchen Elsdorf, kann man von einer solchen Kulisse derzeit nur träumen. Hier blicken die rund 22.000 Einwohner stattdessen – hinter einem Emissionsschutzwall – in eine gigantische staubige Grube, die so groß ist, dass man sie mit bloßem Auge von der Internationalen Raumstation ISS aus erkennen kann. Anstatt Tretbooten drehen hier gewaltige Schaufelradbagger ihre Runden. Noch. Denn ab 2030 will der Energiekonzern RWE den Tagebau Hambach fluten, und so den – dem Volumen nach – zweitgrößten See Deutschlands entstehen lassen.
„Der Hambacher See wird kommenden Generationen als Badegewässer, Segelrevier und Erholungsgebiet zur Verfügung stehen“, heißt es in den Plänen von RWE. Über eine unterirdische Rohrleitung soll Rheinwasser in die bis zu 400 Meter tiefe Grube geleitet werden. Etwa zehn Jahre nach Beginn der Flutung könne eine große Wasserfläche bereits genutzt werden. „Wie der See genutzt wird, unterliegt den angrenzenden Kommunen“, erklärt RWE-Sprecher Guido Steffen. „Es haben sich bereits entsprechende Planungsverbände gegründet.“
Mit Masterplan zur „Stadt am See“
Elsdorf grenzt über eine Strecke von acht Kilometern an den Tagebau und ist somit die einzige Kommune, die direkt am künftigen See liegt. Eines Tages soll sich die Abbruchkante in ein Ufer verwandeln und harmonisch ins Stadtbild einfügen. „Wir hatten bereits klare Vorstellungen, als wir die Planungsbüros beauftragt haben“, erklärt Susanne Dettlaff, Fachbereichsleiterin Stadtentwicklung, Wirtschaftsförderung und Strukturentwicklung der Stadt Elsdorf. „Besonders wichtig ist uns die Wohnlage am See. Denn wenn man auf bereits abgeschlossene Rekultivierungen schaut, gerade hier im Revier, kommt man mit der Stadt nur ganz selten so nah an die Seen heran.“
Mit dem Kölner Planungsbüro Must Städtebau wurde ein Masterplan entwickelt, der sich in drei Transformationsphasen gliedert. In der jetzigen ersten Phase, die den Zeitraum bis zum Start der Flutung berücksichtigt, werden bereits Vorkehrungen getroffen. „Wir wollen den Wandel für die Menschen erlebbar machen und schaffen schon jetzt erste Achsen und Attraktionen“, beschreibt Susanne Dettlaff. So wurde etwa direkt am Tagebau ein neuer Fahrradweg hin zum Aussichtspunkt „Forum :terra nova“ gebaut. Und aus einer ehemaligen Zuckerfabrik soll der „Food Campus Elsdorf“ entstehen, der in den nächsten Jahren in Richtung Tagebaukante weiterwachsen und sich zu einem zukunftsfähigen Forschungs-, Produktions- und Innovationsstandort für die Bereiche Ernährung und Bioökonomie entwickeln soll.

Die zweite Phase nennt sich „Grünes Landstädtchen“ und wird mit der Schließung des Tagebaus ab 2030 starten. Im Mittelpunkt stehen die schrittweise zur Zwischennutzung verfügbaren Flächen rund um die zukünftigen Hafeninseln. Geplant ist eine Waldbühne für Konzerte und Festivals, Wiesen-, Sport- und Spielflächen sowie „Novel Food“-Testfelder auf den angrenzenden Böschungen. In Phase drei wird dann nach der Befüllung des Sees das Hafenquartier „Vista nova“ entstehen – eine Hauptinsel mit zwei kleineren Inseln, die direkt mit dem Ufer, den „Zukunftsterrassen“, verbunden sind.
„Der Bagger arbeitet bereits heute so, dass die Inseln bis 2030 in Hinblick auf das Volumen fertig sind“, erläutert Dettlaff. Nutzbar sind sie unter anderem aufgrund des Bergrechts und der Standsicherheit jedoch erst nach der Flutung. Und bis diese abgeschlossen ist, wird noch viel Wasser den Rhein hinunterfließen: 40 Jahre soll es dauern, bis der Tagebau vollgelaufen ist und rund vier Milliarden Kubikmeter Wasser den „Hambacher See“ bilden.
„Riesiges Potenzial in den nächsten Jahrzehnten“
Doch wie genau wird „Elsdorf am See“ aussehen? Geplant ist eine ausgewogene Teilung des acht Kilometer langen Ufers für Wohnen, Tourismus und Natur, wie Katharina Piront, Strukturwandelmanagerin der Stadt Elsdorf, erläutert. „Insgesamt sollen mit unserem Mammutprojekt circa 20 Hektar Wohnraum in direkter Wasserlage entstehen. Aber auch Gastronomie, Raum für Gewerbeansiedlungen und vor allem touristische Infrastruktur, Hotels und Freizeitanlagen sind vorgesehen.“ Kurzum: Es bieten sich vielfältigste Chancen für die Immobilienwirtschaft. „Es ist ein riesiges Potenzial, das sich hier in den nächsten Jahrzehnten ergibt“, unterstreicht sie.
Doch bis dahin müssen noch zahlreiche Hürden überwunden werden, so Piront weiter: „Wir haben einen unheimlich langen Zeithorizont und gleichzeitig planungsrechtliche Beschränkungen: Bergrecht, Kommunalplanung, Regionalplanung und so weiter, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten greifen und auch wieder wegfallen. Das unter einen Hut zu bringen, ist einfach eine große Herausforderung.“
Nach 2070 also soll Elsdorf in völlig neuem Licht dastehen. „Weg von der industrialisierten Bergbaustadt hin zur modernen, urbanen Stadt im zweiten Speckgürtel von Köln“, fasst Susanne Dettlaff den Wandel zusammen. Eine Stadt, die sich zum positiven Wirtschafts- und Wohnstandort mit einer attraktiven Nutzungsmischung entwickelt. In der man nach Feierabend gleich ins kühle Nass springen kann.
Rheinisches Revier
Das Rheinische Revier ist ein Abbaugebiet von Braunkohle im Tagebau, das sich zwischen Aachen und Euskirchen im Süden und Mönchengladbach im Norden erstreckt. Im Zentrum befinden sich die großen Tagebau-Gruben Hambach, Garzweiler und Inden. Sie sollen bis zum Jahr 2030 geschlossen werden. In der Region liegen 65 Städte und Gemeinden mit insgesamt rund 2,5 Millionen Einwohnern auf 4.800 Quadratkilometern.
Im Mai 2023 wurde der Reviervertrag 2.0 von der NRW-Landesregierung und dem Versorger RWE unterzeichnet, der den Startschuss gab für den vorgezogenen Ausstieg aus der Braunkohleverstromung. Er soll nun bereits im Jahr 2030 stattfinden und nicht erst im Jahr 2038.
Um die Ziele und Maßnahmen anzupassen, vor allem aber, um den ehrgeizigen Aktionsplan verbindlich zu steuern, haben die Zukunftsagentur Rheinisches Revier und die Landesregierung Nordrhein-Westfalens gemeinsam einen Meilensteinplan erarbeitet, der detailliert für die nächsten sieben Jahre die Wegmarken für 31 relevante Entwicklungsfelder im Strukturwandel in der Region festschreibt.