Obdachlosigkeit soll bis 2030 beendet werden. Der Verein Strassenblues aus Hamburg sucht Vermieter, die Wohnraum zur Verfügung stellen. Von Nina Otten
Zu wohnen ist so normal, dass man fast vergisst, welches Privileg es sein kann. Housing First ist ein Konzept, das obdachlosen Menschen im ersten Schritt Wohnraum zur Verfügung stellt. Erst dann werden auf freiwilliger Basis einzelne Herausforderungen in Angriff genommen, wie zum Beispiel die Suche nach einem geeigneten Job, der Besuch bei Ärzten oder der Schuldenabbau bei Krankenkassen, öffentlichen Verkehrsbetrieben oder Bekannten.
Als sich während der Corona-Pandemie die Situation auf Hamburgs Straßen immer weiter zuspitzte, startete Nikolas Migut, Gründer und Vorstandsvorsitzender des gemeinnützigen Vereins Strassenblues, der sich für obdachlose Menschen einsetzt, das Projekt Hotels for Homeless. Dabei konnte er mit seinem Team innerhalb von zweieinhalb Jahren insgesamt über 100 obdachlose Menschen für einen Zeitraum von bis zu sechs Monaten in vier Hostels unterbringen. Dieses Konzept brachte Nikolas Migut im Mai 2023 nahtlos zu einer weiterführenden Idee, um nachhaltiger wirken zu können. So initiierte er Homes for Homeless - Zuerst ein Zuhause, ein Projekt, das Menschen von der Straße, allem voran, den Rückzugsort eines eigenen Zuhauses ermöglicht und sich an Housing First orientiert.
Im Rahmen einer Reise ins finnische Helsinki setzte Nikolas Migut sich 2022 intensiv mit dem Konzept Housing First auseinander. Der Ansatz wurde in den 1990er Jahren unter der Leitung des US-Amerikaners Dr. Sam Tsemberis entwickelt und seit 2008 im weltweiten Vergleich besonders erfolgreich in Finnland realisiert. So konnte Obdachlosigkeit dort sogar um 60 Prozent reduziert werden. Doch es gibt auch Kritik am finnischen System, denn ausländische Obdachlose erhalten keinen Zugang zum Programm, werden aber auch in keiner der Erfolgsstatistiken erwähnt.
Im Jahr 2020 hat das Europäische Parlament seine Mitgliedsstaaten dazu aufgefordert, Obdachlosigkeit bis 2030 abzuschaffen. Das gilt auch für Deutschland. Nikolas Migut glaubt nicht daran, dass das so schnell gelingen kann. Vielmehr hat der 47-Jährige die Vision, Obdachlosigkeit in Hamburg in seiner Lebenszeit zu überwinden. Auch, um die Politik und andere Organisationen zu inspirieren, startete er das Pilotprojekt.
Unser Wohnprojekt „Homes for Homeless - Zuerst ein Zuhause“
Von Mai 2023 bis April 2026 soll das Strassenblues-Wohnprojekt „Homes for Homeless - Zuerst ein Zuhause“ mit fünf hauptamtlichen Mitarbeitern dafür sorgen, dass obdachlose Menschen in Hamburg wieder eine Wohnung finden. Die Besonderheit unseres Projekts ist dabei, dass im Vergleich zu anderen Housing First-Projekten nur Menschen aufgenommen werden, die noch keine Sozialleistungen beziehen, grundsätzlich aber Anspruch darauf haben. Das können in unserem Fall deutsche Staatsbürger oder auch EU-Ausländer mit Daueraufenthaltstitel sein. Durch eine umfassende Förderung der Deutschen Fernsehlotterie, die die Kosten unseres Projekts zu 80 Prozent übernimmt und anderweitige Spendeneinnahmen, ist es Strassenblues möglich, pro Person für ein Jahr Warmmieten von bis zu 750 Euro inklusive Strom zu bezahlen. Sobald der jeweilige Bürgergeldantrag gestellt und bewilligt oder aber ein festes Einkommen vorhanden ist, muss die Person die Mietkosten selbst tragen.
Wichtigster Faktor für die Aufnahme in das Programm ist, zu ermitteln, ob eine Person in Anbetracht des limitierten Unterstützungszeitraumes von zwölf Monaten pro Klient bestimmte Ziele erreichen kann. Bei positiver Bewertung und Aufnahme des Klienten beginnt die Arbeit dann erst so richtig: Unser Sozialarbeiter-Team führt eine Lebenslagenanalyse durch und entwickelt einen sogenannten individuellen Hilfeplan.
Wichtige Unterschiede zu Housing First
Als kleiner gemeinnütziger Verein, der sich aus Fördergeldern und Spenden finanziert, ist es uns nicht möglich, den Anforderungen des Housing First-Prinzips vollumfänglich zu entsprechen. Deswegen haben wir mit der Zeit immer mehr Abstand davon genommen. Nach Housing First-Grundprinzip dürfen Klienten eine zeitlich unbegrenzte Betreuung durch Sozialarbeiter erwarten. Das ist uns aufgrund der Befristung der Förderung nicht möglich. Unsere Maßnahmen unterliegen oft einem gewissen Zeitdruck und setzen die aktive Mitarbeit des Klienten voraus, was bei Housing First nicht vorgesehen ist. Nach Ablauf des ersten Jahres ist es bei uns zwingend notwendig, dass die Person selbst in der Lage ist, ihren Lebensstandard aufrechtzuerhalten und ihren Alltag selbst zu organisieren. Der entscheidende Unterschied zwischen Housing First und unserem Projekt ist aber, dass Homes for Homeless - Zuerst ein Zuhause Menschen ins Programm aufnimmt, die (noch) keine Sozialleistungen beziehen.
Wofür wir es machen: Menschen wie Elias
Als ich noch als Redakteurin beim Fernsehen gearbeitet habe, sah ich ihn jeden Morgen auf dem Weg ins Büro: Elias saß auf seinem Stammplatz und bettelte. Immer hatte er eine Baseball-Cap auf und hörte Musik aus einem tragbaren Radio. Damals hatte ich große Hemmungen im Umgang mit obdachlosen Menschen wie ihm. Deshalb lächelte ich jahrelang nur, aber setzte meinen Weg fort. Und fragte mich doch täglich: Was ist wohl seine Geschichte?
Heute weiß ich es. Denn als ich zu Strassenblues kam, lernte ich Elias kennen. Elias ist Bulgare, Mitte 60 und lebt in Deutschland seit er zwölf ist. Aus prekären Verhältnissen in seiner Heimat wollte seine Mutter ihm in Hamburg eine bessere Zukunft bieten. Doch die fremde Sprache verkomplizierte Elias’ Schulzeit enorm. Auch, dass er seinem Stiefvater im Restaurant aushelfen musste, ließ Elias wenig Zeit zum Lernen. Aufgrund verschiedener Belastungen wurde er später suchtkrank. Gelegenheitsjobs finanzierten ihn. Doch irgendwann fiel alles in sich zusammen: Elias wurde obdachlos. Nur zeitweise schlief er auf einem Dachboden.
Nach einigen Monaten in unserem Programm gelang es uns, für Elias ein kleines Apartment in einer Seniorenwohnanlage zu finden. Wir konnten ihm auch eine einfache Gärtnertätigkeit in einem Kulturprojekt vermitteln, damit er selbständig zu seinem Lebensunterhalt beitragen konnte. Als EU-Ausländer, der nie eingebürgert wurde - und ohne durchgängige Arbeitsnachweise, hatte Elias nur bedingt Anspruch auf staatliche Unterstützung in Deutschland. Doch das änderte sich: Als die Förderung durch uns vor kurzem auslief, konnte Elias sein schmales Gehalt vom Amt aufstocken lassen und wird in einem Jahr Anspruch auf Rente haben.
Elias’ Geschichte ist bisher unsere schönste: Denn, wenn jetzt nichts mehr dazwischen kommt, wird er seinen Lebensabend in Ruhe verbringen können. Diese Tatsache und seine strahlenden Augen, wenn ich ihn treffe, bedeuten mir viel. Und heute bleibe ich immer stehen, wenn ich an Elias’ Stammplatz vorbeikomme: Ja, seine Routine führt ihn weiterhin her. Wir umarmen uns, er schenkt mir Süßigkeiten, wir reden über gemeinsame Erinnerungen und philosophieren über Gott und die Welt.
Was wir dringend brauchen: Wohnraum
Vor allem in den deutschen Großstädten ist es für niemanden leicht, Wohnraum zu finden: In fast allen Einkommens- und Vermögensklassen sehen sich Wohnungssuchende mit großer Konkurrenz konfrontiert. Doch vor allem für obdachlose Menschen ist die Suche auf dem freien Wohnungsmarkt nahezu aussichtslos. Trotz unserer Unterstützung.
Wir verfolgen deshalb zwei Strategien: Der erste Weg führt uns zu sozial eingestellten Vermietern, Maklern, Hausverwaltungen und Eigentümern, die eine Leidenschaft für unser Thema mitbringen und von Herzen etwas Gutes tun wollen. Gemeinsam mit unserer Unterstützung können sie so obdachlosen Menschen eine echte zweite Chance geben. In diesem Szenario verzichten Wohnungsgeber in der Regel auf Schufa- und Gehaltsnachweise.
Der andere Weg zielt darauf ab, obdachlose Personen konkurrenzfähig mit der Mittelschicht zu machen: Das bedeutet, unser Sozialarbeiter-Team unterstützt die Klienten darin, erst mental und dann auch praktisch (zurück) ins Berufsleben zu finden. So können bei einer potentiellen Wohnungsbesichtigung, wie üblich, Gehaltsnachweise der letzten drei Monate vorgelegt werden. Außerdem muss daran gearbeitet werden, Schulden abzubauen und veraltete Schufaeinträge löschen zu lassen, um eine positive Auskunft einreichen zu können. Meist werden noch Insolvenzverfahren der letzten fünf Jahre abgefragt, die nicht selten auch vorliegen.
Für den Zugang zu dem umkämpften Segment der Sozialwohnungen sind in der Regel der Wohnberechtigungs- sowie der Dringlichkeitsschein notwendig. Doch diese Scheine stehen nicht allen Menschen zu und sind je nach Bundesland an strenge Kriterien und Vorgaben gekoppelt.
Was uns bei Strassenblues wirklich hilft, sind Vermieter, die uns Wohnungen zur Verfügung stellen, weil sie sehen, dass Obdachlosigkeit und Armut die Gesellschaft ganzheitlich betreffen. Denn Menschen, die auf der Straße leben, sind anfälliger für Krankheiten und das belastet unser Gesundheitssystem. Aufgrund ihrer Situation arbeiten obdachlose Menschen in der Regel zunächst nicht. Sie sind auf Sozialleistungen und kostenlose Angebote angewiesen. Doch auch soziale Einrichtungen für Menschen ohne Obdach müssen finanziert werden. Hinzu kommen möglicherweise kostspielige Polizeieinsätze und Kriseninterventionen, die sich teilweise in Schleifen wiederholen. Da ist eine Wohnung und die Begleitung durch einen Sozialarbeiter doch günstiger. Armutsforscher Prof. Harald Ansen von der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) in Hamburg fasst das treffend zusammen: “Obdachlosigkeit ist teurer als Prävention.”
Ein Beitrag von Nina Otten.
